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Ich habe einen jungen Freund

Ein Gastbeitrag von LeseLernhelferin Ingrid Kempf

Eigentlich ist es im Moment nicht so wichtig, wie er heißt – er ist fünf Jahre alt und ein sehr tapferer Kerl – tapfer, weil er schon viel erlebt hat in seinen jungen Jahren, darüber möchte ich nun aber nicht berichten.


Ich freue mich immer auf ihn. Ich hole ihn von der Kita ab und wir gehen zu ihm nach Hause. Oft hat er sich schon überlegt, was wir zwei zusammen machen: ein Buch lesen, tuschen, basteln. Dinos sind seine große Leidenschaft. Heute eine Überraschung. An der Wand neben seinem Bett hängt ein Bild mit einem Esel, einem Hund, einer Katze…hat er selbst angemalt…und obendrauf der Hahn.

Ich beginne: „es war einmal ein Esel, der schon lange Jahre die Säcke zur Mühle getragen hatte. Er war alt und grau geworden und er konnte nicht mehr so richtig. Sein Herr wollte ihn nicht mehr bei sich behalten." "Wie macht der Esel?“ – "I-A-I-A -" produziert mein Freund.

„Das sind die Gedanken des Esels, und bedeutet: Ich will in die große weite Welt… ich kann Stadtmusikant werden. Etwas Besseres als den Tod finde ich überall... Und er macht sich auf den Weg. Als er ein Weilchen fortgegangen ist, kommt ein wunderschöner, ein wenig grauhaariger Jagdhund angelaufen. Der lässt den Kopf hängen und japst: Wau, wau, wau –“

„Warum bist du traurig?“ – „Ach, ich bin alt und kann nicht mehr so schnell laufen und jeden Tag werde ich schwächer und mein Herr will mich totschlagen“ -„Wollen wir Freunde sein? Ich will in die große weite Welt und Musik machen“.

Bei diesen Worten sehe ich ein freudiges, strahlendes Lächeln, das über das zarte Gesicht huscht.
„Der Hund kommt mit und zu zweit gehen sie weiter. Es dauert nicht lange und sie treffen eine Katze, die ein Gesicht macht wie 3-Tage-Regenwetter: Miau, miau, miau – weil ich in die Jahre gekommen bin, kann ich keine Mäuse mehr fangen“ – erwartungsvoll sieht der Kleine mich an – „ komm mit uns, wir gehen in die große weite Welt und wollen Musik machen.“
Genau auf diese Worte wurde gewartet, wieder dieses sanfte, zarte und frohe Lächeln – mein Freund sitzt mittlerweile auf dem Schrank neben seinem Bett, schlenkert vergnügt mit den Beinen. Ich sitze ihm gegenüber und sehe ihn an – weiter – weiter.

„Die Katze kommt mit und zu dritt marschieren sie. Sie kommen an einem Hof vorbei. Dort treffen sie den Hahn, der entsetzlich, fürchterlich laut kräht: Kikeriki“
Die Tiergeräusche macht immer mein kleiner Freund – und ich glaube beinahe, dass er voller Vorfreude schon auf dieses, was kommt, begierig ist.

Wahrscheinlich kennt diese Geschichte jede und jeder, doch nun passiert, völlig unerwartet, dass diese Tiergruppe ein Schaf trifft…!
Mäh – mäh – mäh, eine Kuh – ein Pferd – ein Schwein – einen Frosch, eine Schildkröte, Hühner…
Ich denke bei mir: – „nun reicht’s langsam“ – die Leidenschaft hat ihn gepackt…er hat sich hineingesteigert – weiter, immer weiter und nun kommt ein Biber – tja, wie macht ein Biber??? Der Biber hat einen großen Berg Holz gestapelt und mit dem Holz bauen sich alle gemeinsam eine Höhle, hier wollen sie schlafen…
Es ist ein wunderbarer, schaurig schöner Tier-Stimmen-Chor. Wir üben muh und mäh und quak – Seine Freude ist mitreißend! Jetzt öffnet er die Schublade seines Schranks und holt eine Trommel, eine Flöte, eine Triangel – was für ein Konzert!

Beim Nach-Hause-Fahren denke ich an die Weite und die Großherzigkeit dieses kleinen Mannes und sein Leuchten beim Ausspinnen des Märchens. Ich denke an die vielen, an die vielen vielen Menschen, die jetzt neu in unserem Land sind.

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Bremer Stadtmusikanten
Foto von FamilienbildungWedel auf Pixabay